Vordergasse 1924 Bild Wessendorf Sammlung Koch
Zur Gründung der Stadt Neunkirch gibt es keine Urkunden. Gesichert ist, dass Graf Eberhard II. von Waldburg, Bischof von Konstanz, die Vogtei Neunkirch im Jahr 1260 gekauft hat und am 20. Februar 1274 gestorben ist. Eine dendrologische Untersuchung datiert einen Balken in einem an die Stadtmauer angebauten Haus neben dem Obertorturm auf den Herbst/Winter 1262/1263.
Die Historiker sind sich einig in der Vermutung, es sei Graf Eberhard II. gewesen, der in dieser Zeit die Stadt Neunkirch gegründet hat. Unklar bleibt
• wann genau die Stadt gegründet worden ist
• warum sie an diesem Ort gegründet worden ist
• und warum sie so auffallend rechteckig ist.
Anstelle von Dokumenten hat uns der Gründer eine Stadt hinterlassen, die auch heute noch geometrisch so klar ist, dass man sie als «gebaute Urkunde» lesen kann: die
Lage der Stadt und ihre Orientierung enthalten das Gründungsdatum, die Gestalt ist das Ergebnis einer rafinierten Stadtgeometrie im Goldenen Schnitt.
Der Bischof gründet Neunkirch in der Zeit der Gotik, während der europäischen Stadtgründungswelle. In einer Zeit, in der die Überzeugung wächst, der menschliche Verstand könne die Schöpfung erkennen und dank der Mathematik ein Abbild der kosmischen Ordnung schaffen; in einer Zeit, in der das Leben gleichermassen bestimmt wird von der Hoffnung auf ein baldiges paradiesisches Zeitalter wie von der Angst vor dem Fegefeuer, und in der die reale und die virtuelle Welt innig verflochten und durch Symbole verbunden sind.
Er gründet Neunkirch an einem Ort, der keine wirtschaftlichen Standortvorteile verspricht, aber ideale Voraussetzungen bietet für eine Planstadt. Und er gründet die Stadt mit den neuesten, beim Bau der gotischen Kathedralen gewonnenen Planungs- und Vermessungstechniken.
Anhand von Dokumenten kann man schliessen, dass Graf Eberhard II. ums Jahr 1210 geboren worden ist. Sein Vater war Reichstruchsess am Hof des staufischen Kaisers Friedrich II. Im August 1248 wird er zum Bischof von Konstanz gewählt, dem grössten Bistum nördlich der Alpen.
Er führt eine gewinnbringende Territorialpolitik durch. So kauft er nebst anderen die Burg Küssaberg; zwei Höfe bei Neunkirch; Gottlieben, wo er eine Burg und einen Rheinübergang baut; nach 1248 gründet er die Stadt Bischofszell und 1269 kauft er Burg und Stadt Klingnau. 1260 kauft er von den Krenkingern für insgesamt 680 Mark Silber die Vogtei Neunkirch, das Meieramt und zwei Gutshöfe. Diese Investitionen haben sich gelohnt: dank den hohen Getreidezinsen hat er In weniger als drei Jahren den Kaufpreis amortisiert.
Neben dem Ausweiten seiner Einflusssphäre durch den Kauf von Gütern und Städten unterstützt er auch den Bau neuer Kirchen und Klöster: ein Nonnenkloster und das Stift St. Johann in Konstanz; 1266 stiftet er einen Altar im Konstanzer Münster. Er fördert den Karlskult in Zürich und organisiert den Ablass für eine Gedenkfeier für Karl den Grossen.
In der Mauritius-Kapelle im Münster in Konstanz lässt er um 1260 das Heilige Grab bauen. Es repräsentiert die Grabstelle Christi und weist bemerkenswerte Skulpturen auf. Die Steinmetzarbeiten werden mit Vorbildern aus der Bauhütte von Chartres in Verbindung gebracht. Das Heilige Grab in Konstanz wird also zur gleichen Zeit und
vom gleichen Bischof gebaut, der auch die Stadt Neunkirch gründet. Es ist gleichsam die «Schwester» der Stadt Neunkirch.
Eberhards Episkopat liegt in der Zeit des Interregnums. Er ist ein machtbewusster und umtriebiger Potentat und muss in dieser gefährlichen Zeit seinen Herrschaftsanspruch verteidigen. Mit der Stadt Konstanz liegt er über lange Zeit im Zwist und mit Abt Berchtold von Falkenstein vom Kloster St. Gallen führt er einen langjährigen Streit. Im Herbst 1251 kommt es zur offenen Fehde.
Im Frühling 1253 wird der Bischof vom Papst exkommuniziert. Der neue Papst Alexander IV. kann 1258 eine Einigung zwischen Bischof und Abt herbeiführen. Das Verhältnis entspannt sich, und gemeinsame politische Interessen führen zu einer Annäherung. Auch der Streit mit der Stadt Konstanz kann in der Folge geschlichtet werden. Bischof Eberhard von Konstanz und Abt Berchtold von St. Gallen werden die beiden mächtigsten Herren um den Bodensee.
Nach dem Tod Friedrichs II. übernimmt er eine der Vormundschaften von Konradin, dem Enkel Friedrichs, und unterstützt ihn bei seinem Feldzug nach Süditalien. Konradin verliert dabei aber die Schlacht und sein Leben.
Am 1. Oktober 1273 wird Rudolf von Habsburg zum König des römisch-deutschen Reiches gewählt, damit endet das Interregnum. Am 25. Januar 1274 treffen sich Rudolf und Eberhard in Zürich. Kurz darauf, am 20. Februar 1274, stirbt Graf Eberhard II.
Der Mensch im Mittelalter lebt in einem Universum von Symbolen, von Bedeutungen, Hinweisen und Doppelsinnigkeiten. Realität und Fiktion vermischen sich. Auch bei der Gründung der Stadt Neunkirch spielten Symbole eine wichtige Rolle, vor allem der mystische Sonnenaufgang. Die Sonne ist die Metapher für Christus, und der Aufgang der Sonne ist auch die Auferstehung Christi.
Wie im Altertum Heiligtümer «geostet» wurden, so wurden auch im Mittelalter Kirchen und Städte nach der aufgehenden Sonne «orientiert». Sie fügten sich damit in die kosmische Ordnung. So sind etwa die Kathedrale Notre Dame in Paris, das Münster Allerheiligen in Schaffhausen oder der Stephansdom in Wien an den Sonnenaufgängen an ausgewählten Tagen orientiert. Gleiches gilt für die von Florenz gegründeten, Terre Nuove genannten Städte, beispielsweise San Giovanni, Valdarno Firenzuola und Scarperia.
Neunkirch weicht um 5.4° nach Norden von der West-Ost-Achse ab. Die Verlängerung der Vordergasse über den Klettgau nach Osten, Richtung Schaffhausen, trifft genau in den Einschnitt bei der Enge Beringen zwischen Randen und Südranden. Die anderen Siedlungen liegen am Rand der Klettgauer Ebene, nur Neunkirch liegt allein in der Ebene. Die Stadt liegt somit an einem Ort und ist so gerichtet, dass der Blick zum Horizont in östlicher Richtung am längsten frei bleibt.
An dem von der Vordergasse anvisierten Horizontpunkt geht die Sonne im Frühjahr zwischen dem 31. März und dem 1. April und im Herbst zwischen dem 4. und dem 5. September auf. In den Jahren zwischen 1260 und 1273 im Frühling an sechs Freitagen und fünf Sonntagen. Davon ist einer ein Ostersonntag, der 31.3.1269, und zwei sind Palmsonntage, der 1.4.1263 und der 1.4.1268. Von den sechs Freitagen ist keiner ein Karfreitag. Im Herbst hat es keine beweglichen christlichen Feiertage, und um den 4. und 5. September finden sich keine christlichen Gedenktage, die mit der Stadtgründung in einer Beziehung stehen würden.
Die Berechnung der Sonnenaufgangslinien zeigt: Am Palmsonntag, dem 1. April 1263 und am Ostersonntag, dem 31.März 1269 geht die Sonne genau in der Verlängerung der Vordergasse auf (Gregorianischer Kalender).
Es gibt mehrere Indizien dafür, dass die Stadt am Palmsonntag, dem 1. April 1263 auf den Sonnenaufgang ausgerichtet wurde und der Gründungsprozess dann begonnen hat. Das stärkste ist zweifellos das Ergebnis der dendrologischen Untersuchung aus dem Jahr 1988 an einem Balken in einem Haus beim Obertorturm, das direkt an die Stadtmauer angebaut ist; der Baum wurde im Herbst/Winter 1262/1263 gefällt. Es wäre sinnlos gewesen, das Holz bis 1269 sechs Jahre lang zu lagern, in einer Zeit, in der besonders viel Baumaterial benötigt wird.
Nicht nur mit der Orientierung der Stadt nach der aufgehenden Sonne, auch mit der Gestalt der Stadt und ihrer Gliederung zeigt der Gründer seinen Zeitgenossen und nun auch uns, wie er seine Stadt in die gottgegebene kosmische Ordnung einfügen will.
Mit ihrer symbolisch aufgeladene Geometrie und ihrer vollkommenen Form ist die Stadt – getreu der mittelalterlichen Vorstellung – ein Abbild des Universums und eine Vorahnung auf das Himmlische Jerusalem. Aus dem Goldenen Schnitt entwickelt sich ein einzigartiger Stadtgrundriss.
Die Konstruktion ist genial einfach. Der Baumeister setzt den Pfahl und zieht mit einem Seil von etwa siebzig Metern Länge den Initialkreis. Damit bestimmt er den Standort und die Grösse der Stadt. Nachdem er die Richtung zum Sonnenaufgang festgelegt hat, bestimmt er mit vier Zirkelschlägen das dem Initialkreis eingeschriebene Quadrat und daraus konstruiert er das Doppelquadrat, das den inneren Teil der Stadt umfasst. Die Diagonalen des Doppelquadrats schneidet er mit fünf weiteren konzentrischen Kreisen, deren Radien durch den Goldenen Schnitt aus dem Initialkreis und dem Quadrat entstanden sind.
Die Hauptgasse trennt die Breitseite der Stadt im Goldenen Schnitt, die beiden Tortürme der mittelalterlichen Stadt offenbarten den Goldenen Schnitt von Weitem.
80% der Fassaden und Grundstücksgrenzen stehen heute noch exakt auf den Linien der Stadtgeometrie. Nach mehr als 760 Jahren Stadtgeschichte gibt es auch Stellen, wo die heutigen Grundstücksgrenzen nicht mehr identisch sind mit dem Urbild. Teilweise ist zu vermuten, weshalb. Im östlichen Teil der Stadt stimmen die Grundstückgrenzen besser mit der Stadtgeometrie überein. Insgesamt können die Abweichungen die zugrundeliegende Geometrie aber nicht in Zweifel ziehen.
Um die Stadtgeometrie ins Gelände zu legen, musste der Baumeister zunächst den Initialkreis bestimmen. Dabei benutzte er das damals übliche Fussmass. Je nach Region wurden unterschiedliche Fussmasse verwendet, Infrage kommen können am ehesten der römische Fuss oder der Schaffhauser Werkschuh.
Mit der Geometrie der Stadt können alle Masse
der Häuser und Gassen mathematisch ausgedrückt werden als Funktion des Radius des Initialkreises. Dadurch lässt sich das Fussmass berechnen, das der Baumeister seinerzeit benutzt hat. Eine einfache Rechnung zeigt: Der römische Fuss ist in der Stadtbreite (139.1 m) genau 470 und in der Länge (257.5 m) 870 mal enthalten. Die Stadt ist somit 870 römische Fuss lang und 470 Fuss breit.
Um 1300 gab es in Neunkirch 53 steuerpflichtige Bürger und 37 Hofstättenzins zahlende Häuser – das entspricht etwa 170 Einwohnern. Der Bau der Stadtmauer und der Türme muss also für die Bewohner ein grosser Arbeitsaufwand und eine finanzielle Belastung gewesen sein. Trotzdem gab es genügend Interessenten, die sich um ein Grundstück bemühten. Dazu wurde die Stadt in Hofstätten und diese in Hausplätze unterteilt, auf denen die Bewohner ihre Häuser bauten.
Mit 37 Häusern waren zu Beginn die Hofstätten nicht vollständig überbaut. Ein Teil wurde vermutlich als Garten und für das Kleinvieh genutzt.
Auf der Suche nach einer Hofstatteinteilung fällt auf, dass Grundstücke mit gleichen Breiten (36 und 18 Fuss oder 24 und 12 Fuss) gehäuft vorkommen und sieben Grundstücke von 36 Fuss Breite in einem Raster liegen, der sich über die Gassen hinzieht. Aus diesem, noch erkennbaren Raster kann als These ein Hofstättenplan abgeleitet werden.
Kaiser Friedrich II. baut zur Stärkung seiner Herrschaft in Italien wenige Jahrzehnte vor der Gründung Neunkirchs mehrere Kastelle. Beiden gemeinsam ist die Formensprache, das Ideal der absoluten, geschlossenen, geometrisch reinen und vollkommenen Form, die keine Veränderung duldet und keine Erweiterung mehr zulässt. Sie entspricht damit einem zeitgemässen Schönheitsideal, Friedrich realisiert es in seinen Kastellen, der Bischof in seiner Planstadt.
Neunkirch ist nicht die einzige Stadt mit einem geometrischen Grundriss. Nach den Stadtgründungen des Römischen Reiches entstehen in Europa immer wieder Planstädte wie Villafranca di Verona, Castelfranco, Montapzier, Freudenstadt oder Neuf-Brisach.
Weitaus am nächsten verwandt mit Neunkirch sind die «Terre nuove» genannten, von Florenz gegründeten,
kleinen Städte in der Toskana. Obwohl sie im romanischen Kulturraum liegen, teilen sie mehrere Gemeinsamkeiten mit Neunkirch. Die geschlossene rechteckige Form, die Zweckbestimmung und die Lage der Städte, vor allem aber die symbolisch aufgeladene perfekte Geometrie sind wesensgleich. Hinter den sichtbaren Dingen leuchtet eine geistige Verwandtschaft auf.
Im Jahr 1285 beschloss die Regierung der Stadt Florenz ihr Territorium militärisch zu sichern und neue Handelszentren zu bilden. So entstanden dreissig bis fünfzig Kilometer um Florenz die «Terre nuove». Sie sollten, verkleinert, Florenz als Idealstadt darstellen, was Florenz selbst als gewachsene Stadt nicht mehr sein konnte und den Höhepunkt des zeitgenössischen Städtebaus markieren.