Die Lage und die Orientierung der Stadt Neunkirch führen zum Gründungstag

Neunkirch weicht um etwa 5.4° von der West-Ost-Achse ab; das sind 84.6° Azimut auf der Windrose. Die 84.6°-Verlängerung der Vordergasse über den Klettgau nach Osten, Richtung Beringen, Neuhausen am Rheinfall und Schaffhausen, trifft genau in den Einschnitt bei der Enge zwischen Randen und Südranden. 

Die Stadt liegt somit an einem Ort und ist so gerichtet, dass der Blick zum Horizont in östlicher Richtung am wenigsten beeinträchtigt wird. Läge die Stadt wenige Meter nördlicher oder südlicher, wäre die Horizontlinie deutlich höher. Die anderen Siedlungen liegen am Rand der Klettgauer Ebene, Neunkirch aber lehnt sich als einzige nicht an einen Abhang, ist allein in der Ebene.

Geht man von der Annahme aus, die Lage und die Orientierung der Stadt seien bloss Zufall, wird jede weitere Betrachtung der Zusammenhänge obsolet. Interessanter ist die Annahme, der Stadtgründer habe das so gewollt und geplant; er habe im Klettgau für seine Stadt einen Ort gesucht, der ihm den besten Blick auf den Sonnenaufgang an 

einem bestimmten Tag ermöglicht. Ein blosser Zufall, stünde auch im Widerspruch zur Tatsache, dass der Gründer die Stadt mit einem klar erkennbaren, beweiskräftigen Gestaltungswillen geformt hat. Die Stadtgeometrie ist ohne bewusste Absicht und Planung nicht denkbar.

Auf etwa halbem Weg zwischen Neunkirch und Beringen liegt der höchste Punkt des Schmerlat. Er ist 40m höher als die Vordergasse und 2980m entfernt. Das führt zu einem Höhenwinkel von 0.6° bis 0.7°. Der Sonnenaufgang kann damit nicht in der Waagrechten beobachtet werden, sondern erst wenige Minuten später, wenn die Sonne den Höhenwinkel erreicht hat. Dieser Umstand kann in die Berechnung des Sonnenaufgangspunkts einbezogen werden. 

Die Stadt liegt an einem Ort und ist so orientiert, dass der Blick nach Osten frei ist

Die Stadt liegt an einem Ort und ist so ausgerichtet, dass an jedem 31. März und 1. April die Sonne in der genauen Verlängerung der Vordergasse aufgeht

In einem virtuellen Fenster am Horizont – um Messungenauigkeiten aufzufangen, liegt der linke Rand bei 84.0°, der rechte bei Rand 85.0°, der untere Rand bei 0.6° und der obere bei 0.8° – geht die Sonne im Frühjahr am 31. März und am 1. April und im Herbst am 4. und am 5. September auf.

In den Jahren zwischen 1260 und 1273, in denen der Bischof Eberhard II. von Konstanz Neunkirch gegründet haben könnte, geht die Sonne etwa 4750 mal auf, davon 52 mal in diesem Fenster. Näher bestimmbar ist der Gründungstag aufgrund dieser Tatsachen nicht. Erst die Annahme, der Bischof habe, wie viele andere Kirchen- und Stadtgründer seiner Zeit, die Vermessung seiner Stadt auf den Sonnenaufgang an einem bestimmten christlichen Feiertag ausgerichtet, führt näher an den Gründungstag heran.

Zwischen dem 31. März und dem 1. April kommen ausschliesslich die beweglichen Feiertage Palmsonntag, Karfreitag und 

Ostersonntag infrage. Pfingsten liegt ausserhalb des virtuellen Fensters. Im Herbst hat es keine beweglichen Feiertage, und um den 4. und 5. September finden sich keine christlichen Gedenk- oder Heiligentage, die mit dem Gründer, mit Konstanz oder Neunkirch in einer Beziehung stehen würden. Der nächstgelegene Festtag, die «Kreuzerhöhung», findet am 14. September zum Gedächtnis an die wunderbare Auffindung des «Wahren Kreuzes Christi» statt, liegt aber klar ausserhalb des Fensters.

Zwischen 1260 und 1273 ging im Frühling die Sonne an sechs Freitagen und an fünf Sonntagen in diesem virtuellen Fenster auf. Mit den Osterformeln von Gauss, Kinkelin und Spencer kann berechnet werden, welche dieser Tage auf Oster- oder Palmsonntage oder Karfreitage fallen: Von den fünf Sonntagen ist einer ein Ostersonntag, der 31.3.1269, und zwei sind Palmsonntage, der 1.4.1263 und der 1.4.1268. Von den sechs Freitagen ist keiner ein Karfreitag.

Die Berechnung der Sonnenaufgangslinien zeigt nun genauer: der 1. April 1268 liegt ausserhalb des Fensters, aber am 1. April des Jahres 1263 und am 31. März 1269 geht die Sonne im virtuellen Fenster auf. Der 31. März 1269 ist geringfügig genauer.

Die beiden Tage, an denen die Vermessung und damit die Gründung der Stadt Neunkirch begonnen haben könnte, sind somit 


Palmsonntag der 1. April 1263

oder

Ostersonntag der 31.März 1269.


Die Daten entsprechen dem heute geltenden Gregorianischen Kalender, für den im 13. Jahrhundert gültigen Julianischen Kalender liegen die entsprechenden Daten sieben Tage früher: für den Palmsonntag schrieben sie damals den 25. März 1263 und für Ostersonntag den 24.März 1269.

Der Vermesser musste am Orientierungstag natürlich auch mit bedecktem Himmel rechnen. Das Problem konnte er allerdings einfach lösen, indem er an mehreren vorangehenden Tagen die Sonnenaufgangspunkte feststellte. Mit einer Interpolation konnte er daraus den Sonnenaufgangspunkt am Orientierungstag bestimmen. 

Heute befindet sich der höchste Punkt beim Schmerlat in Blickrichtung auf den Sonnenaufgang direkt neben einem Wald; ob das auch zur Zeit der Gründung so war, wissen wir nicht. Sollte der natürliche Horizont bewaldet und Ende März nicht durchscheinend gewesen sein, müsste das virtuelle Fenster um die Baumhöhe nach oben gedacht werden. Die Sonnenaufgangslinien bleiben jedoch gleich. Das heisst, die beiden Sonnenaufgangslinien vom 1. April 1263 und 31. März 1269 fügten sich bei bewaldetem Horizont noch genauer in das virtuelle Fenster ein. Die gefundenen Tage gelten in beiden Fällen.

Nicht berücksichtigt sind die Erdkrümmung, die Refraktion und die Abplattung der Sonne. Bei einer Distanz von weniger als 10 km können sie vernachlässigt werden.

War es am Palmsonntag oder an Ostern?

Für Palmsonntag, den 1. April 1263 sprechen:

•    Ostern ist der höchste christliche Feiertag. Die Gottesdienste erstrecken sich von der Feier des letzten Abendmahls am Gründonnerstagabend über den Karfreitag mit dem Gedächtnis des Leidens und Sterbens Jesu und den Karsamstag, den Tag der Grabesruhe, bis zum Ostersonntag, dem Tag der Auferstehung des Herrn. Der Bischof, so ist anzunehmen, wird am Gründungstag seiner neuen Stadt wohl persönlich anwesend, bei Osterfestlichkeiten aber eher in Konstanz als in Neunkirch gewesen sein. 

•    Der Bischof ist im April 1263 nachweislich in Frauenfeld, am 29. April 1263 beteiligt er sich an der Gründung eines Nonnenklosters in Konstanz; er ist also in der Nähe und nicht auf einer seiner vielen Reisen. 

•    Am Palmsonntag zieht Jesus auf einer Eselin durch das «Goldene Tor» in die Stadt Jerusalem ein. Daraus entwickelt sich im Mittelalter ein ritueller Kultus, während dem der Stadt- oder Landesherr am Palmsonntag durch das Stadt­tor in die Stadt einzieht. Indem er so Christus symbolisch nachahmt, betont er das Gottesgnadentum seiner Herrschaft. Möglicherweise lässt sich der Bischof auch von solchen Vorstellungen leiten: dass er oder seine Nachfolger dereinst am Palmsonntag durch das Tor in die Stadt einreiten.

•    Das stärkste Indiz ist jedoch zweifellos das Ergebnis der dendrologischen Untersuchung aus dem Jahr 1988 an einem Balken in einem Haus beim Obertorturm, das direkt an die Stadtmauer angebaut ist; der Baum wurde im Herbst/Winter 1262/1263 gefällt. Weiss da jemand ein gutes halbes Jahr voraus, dass eine neue Stadt geplant ist? Bewirbt er sich für einen Bauplatz, erhält ihn und beschafft dann das Baumaterial? Völlig sinnlos wäre es jedenfalls gewesen, das Holz sechs Jahre lang zu lagern, in einer Zeit, in der viel Baumaterial benötigt wird für den Bau von Häusern und Mauern. 

Der Befund des dendrologischen Gutachtens bedeutet auch, dass mit dem Bau der Stadt im Jahr 1263, spätestens aber 1264 begonnen wurde. Also muss der Bischof vorher entschieden haben, eine neue Planstadt zu gründen. Er war da etwas über 50 Jahre alt. 

Es ist sehr unwahrscheinlich, dass der Bischof, ein Mann der Tat, in diesem Alter noch fünf Jahre mit der Gründung zuwarten wollte.

Für Ostersonntag, den 31. März 1269 sprechen:

•    Die Daten des Sonnenaufgangspunkts sind geringfügig präziser.

•    Der Bischof ist am 18. April 1269 vermutlich in Konstanz. Er wäre also in der Nähe.

•    Er könnte für die Gründung der Stadt Neunkirch eine Ausnahme gemacht und die Osterfeierlichkeiten in Konstanz für einmal seinen Adlaten übergeben haben.

•    Der Palmsonntag liegt noch in der Fastenzeit; die wichtige Stadtgründung hätte nicht mit einem üppigem Festmahl verbunden werden können.

•    Nach der Enthauptung seines Mündels Konradin, des letzten Stauferkönigs, im Ok­tober 1268 zog sich Bischof Eberhard aus der europäischen Politik zurück. Er hätte nun mehr Zeit gehabt, sich mit der Stadtgründung im Klettgau zu befassen.

Mit grosser Sicherheit darf also angenommen werden, Graf Eberhard II. von Waldburg, Bischof von Konstanz, habe die Stadt Neunkirch auf den Sonnenaufgang am Palmsonntag, dem 1. April 1263 ausgerichtet.

In den folgenden Ta­gen reiste er wohl zu den Osterfeierlichkeiten nach Konstanz, während sein Baumeister den noch zu beschreibenden, einmaligen Grundriss der Stadt ins Gelände gelegt hat.

Es geschah mit hoher Wahrscheinlichkeit am 

Palmsonntag, dem 1. April 1263